In einer dieser quälend langen, schlaflosen Nächte der letzten Woche war ich es Leid, den Sorgen und der Traurigkeit immer wieder so eine Mächtigkeit über mich zu geben und so versuchte ich mich abzulenken.
Es ist nicht sonderlich einfach, nachts im Dunkeln, ohne Mitmenschen zu stören, eine Ablenkung zu finden.
Aufstehen schied definitiv aus - niemals würde ich freiwillig die nächtliche Bettwärme verlassen - so musste es etwas Gedankliches sein.
Also versuchte ich mich an alle Gedichte zu erinnern, die ich je in meinem Leben auswendig lernen musste oder wollte.
Ich liebe Lyrik. Ich kann stundenlang in einem Gedichtband lesen und darüber sinnieren, was mit diesem oder jenem gemeint sein könnte.
Noch eher finde ich mich in vielen Werken anderer Menschen wieder.
Ich habe wenig Erinnerung an meine Grundschulgedichte. Ich entsann mich also in dieser Nacht an:
"Dunkel war´s der Mond schien helle...."Gerade mal die ersten zwei Strophen hatte ich noch parat.
Da fiel mir das Gedicht
"Gefunden" von Goethe ein. Es muss in der sechsten oder siebten Klasse gewesen sein - ich war wie immer (es war mir längst zur Routine geworden) allen Lehrern massiv auf die Nerven gefallen - als ich dieses Gedicht zur Strafe zu Hause auswendig lernen musste.
Ich bekam es in dieser Nacht noch vollständig zusammen, dabei hatte es mich seinerzeit inhaltlich nicht gerade überzeugen können.....
Einmal bei Goethe angekommen, lag es nahe, sich am
"Erlkönig" zu versuchen. Auch das damaliges Schulpensum. Ich erinnere mich, dass wir so ein dünnes, grünes Heft hatten mit vielen wichtigen Balladen und diese vielen wichtigen Balladen mussten wir nahezu fast alle auswendig lernen.
Den "Erlkönig" fand ich damals faszinierend, weil er so schaurig schön traurig war.
Es beruhigte mich, dass ich bis auf ein paar Stolpereien auch dieses Gedicht noch in mir trug.
Nun war es ein Katzensprung zum
"Zauberlehrling". Spätestens seit
Achim Reichel eines meiner Lieblingswerke.
Leider kam ich nicht über das zweite "Walle, walle.." hinaus, was mich wirklich ärgerte.
Ich mühte mich ab, ich versuchte wirklich, mich an die Verse zu erinnern, aber auch, wenn ich den Inhalt wiedergeben konnte, das Gedicht an sich fand sich nicht mehr vollständig in meinem Gedächtnis.
Dabei hatte ich es einst flüssig und mitfiebernd rezitieren können.
Von Goethe zog es mich zu Kästner und seine
"Sachliche Romanze" bekam ich mit nur wenigen Stolperreien noch hin.
Dabei war das kein Schulstoff, sondern ein Gedicht, das mir in die Hände fiel, als ich mich kurz nach der standesamtlichen Hochzeit, kurz vor der kirchlichen Trauung von meinem ersten Mann trennte.
Vielleicht stecken die Worte aus diesem Grunde noch in mir. Leider fehlten mir dann aber bei der
"Sache mit den Klößen" wieder ganz viele Worte....
Dabei habe ich das Gedicht geliebt. Im fünften Schuljahr? Oder war es in der sechsten Klasse? Es stand im Deutschbuch und wir haben es irgendwie vorgeführt. Ich entsinne mich nur sehr dunkel.
Nachts zumindest kam ich nur bis zu den "drei Meter zehn".
Frustrierend.
Schillers Glocke war gar gänzlich weg. Sozusagen ausgelöscht in meinem Gedächtnis.
Wie überhaupt alles, was ich je von Schiller las oder gelernt hatte.
Friedrich Rückerts
"Barbarossa" bekam ich sozusagen auch gar nicht mehr zusammen, sieht man mal von der ersten Zeile ab.
Dafür fielen mir Hesses
"Stufen" dann schon wieder leichter. Kein Wunder, das Gedicht begleitet mich nun seit so vielen Jahren und immer wieder finde ich mich und mein Leben darin wieder.
Dann kam mir mit einem Male
"Das Grab im Busento" in den Sinn und fälschlicherweise dachte ich, es wäre von Clemens Brentano. So kann man sich irren, wie ich am nächsten Tag durch Nachschlagen in diesem
wunderbaren Buch feststellte.
August Graf von Platen hat es geschrieben - nie gehört - ehrlich, oder arg verdrängt.
"Nächtlich am Busento lispeln" hatte ich mir gemerkt und nun fragt man sich doch:
"Warum um Himmelswillen?"Wie entscheidet das Gedächtnis, was es behält und was verloren geht?
Und wo sind all die auswendig gelernten Worte denn nur hin?
Wieso kann ich die Anfänge vieler Gedichte und der Rest ist verschwunden?
Oder ist der Rest gar nicht verschwunden, nur versteckt hinter anderem gedanklichem Ramsch?
Um ehrlich zu sein, kam ich noch nie in die Lage ad hoc ein Gedicht rezitieren zu müssen, aber allein der Gedanke, es jederzeit zu können ist durchaus reizvoll, wenn es auch keinen echten Lebensnutzen mit sich bringt.
Die Nacht verging und mein Plan war aufgegangen. Es blieb zwischen all den Gedichten kein Platz mehr für die Traurigkeit und die Sorgen.
Und seitdem die Sorgen wissen, dass sie keine Chance mehr haben, sind sie glücklicherweise fern geblieben - zumindest in der Nacht.
Dafür liegen nun einige Gedichtbände parat. Für schlaflose Nächte.
Und den Zauberlehrling habe ich bald wieder parat.
Das habe ich mir in jener Nacht versprochen!
Liebe Susanne,
lange hier nicht mehr von dir gelesen.
Oder sind die Worte immer noch weg?!
liebe Grüße von Carla
vom 22.12.2013, 12.45