Ausgewählter Beitrag
Rollstuhl rabiat
Freitag Abend in der Schlange vor dem Zirkuszelt.
Die Ferienspaßwoche neigte sich dem Ende und Höhepunkt entgegen.
Eine Woche lang hatte Lena mit ihrer Freundin und über 80 anderen Kindern im Zirkus für die Vorstellung geprobt.
Die gespannten Eltern warteten nun neugierig darauf, dass der Zirkus seine Pforten öffnete.
Mit einem Male wurde ich derart unsanft von hinten angerempelt, dass meine Tasche von der Schulter in eine große Pfütze rutschte, ich selber mit der Stirn hart gegen einen Zeltpfosten stieß.
Als ich empört über meine Schulter blickte sah ich einen älteren Herrn, der mich böse anblaffte:
"Sehen Sie nicht, dass meine Frau im Rollstuhl sitzt?"
Der Rollstuhl mitsamt Frau stand ein gutes Stück hinter uns in der Schlange und natürlich hatte ich seine Frau nicht gesehen.
Der Mann drückte und drängelte weiter, stieß mir seine Ellbogen in die Seite, trampelte auf meine Tasche und fauchte:
"Nun machen Sie schon Platz!"
Ich hätte sicher gerne Platz gemacht, nur standen wir alle schon derart eng zwischen den Absperrgittern, dass es schlicht unmöglich war Platz zu machen und das versuchte ich dem Herrn auch noch einigermaßen freundlich zu erklären.
Als ich mich bückte, um meine Tasche aus dem Dreck zu holen, trat er mit seinen festen Stiefeln auf meine Hand.
"Ich hab doch gesagt, machen Sie Platz!" herrschte er mich daraufhin an und mir traten vor Schmerz die Tränen in die Augen.
In diesem Moment fuhr mir von hinten seine Frau mit dem Rollstuhl derart heftig in die Waden, dass ich auf meine Freundin kippte und mit dieser in die Pfütze zu meiner Tasche fiel.
Als wir uns wieder aufrichteten stieg heißer, lodernder Zorn in mir hoch.
Just in diesem Augenblick wurde das Zelt geöffnet und mit einem letzten plumpen Stoß drängte der Mann an uns vorbei und auf den Ordner zu.
"Meine Frau sitzt im Rollstuhl und kein Schwein macht Platz!" schrie der Herr dem verdutzten Ordner entgegen.
Dieser erwiderte:
"Wir haben für Rollstuhlfahrer doch Logenplätze reserviert, sie müssen nicht so drängeln!"
"Ich drängle, weil diese Frau" sein Finger zeigte unmissverständlich auf mich "weil diese unverschämte Frau uns nicht vorbei gelassen hat!"
Ich spüre den Zorn heiß in mir wallen, beiße mir aber auf die Zunge, ganz wohlerzogene Tochter und setze mich stumm an meinen Platz.
"Das ist Diskriminierung!" höre ich den Mann schreien und seine Frau flucht ebenfalls lautstark vor sich.
Die Menschen um mich herum sind sichtlich genervt, man hört es leise, unwillig grummeln, aber niemand - auch ich nicht - wagt es, das Wort zu erheben.
Warum eigentlich?
Ich bin stinksauer, platze vor Wut, sage aber nichts, weil die Frau im Rollstuhl sitzt und es politisch und menschlich eventuell nicht korrekt sein könnte, wenn ich eine solche Frau und ihren Mann anpampe?
Das Geschehene lässt mir keine Ruhe und ich frage einen Tag später einen Freund, ebenfalls an den Rollstuhl gebunden, was er von der Sache hält.
Er grinst erstmal.
Denkt nach und sagt dann:
"Weißt Du, das ist die kleine Macht, die wir über Euch Nichtbehinderten haben!"
Wieder dieses Grinsen und dann:
"Du bist selbst Schuld! Hätte Dich wer angerempelt ohne Frau im Rollstuhl hättest Du Deine Meinung gesagt. So aber kam das Mitleid durch und die Angst als Diskriminierer dazustehen. Also kämpfst Du innerlich mit Deinem Zorn und schluckst ihn herunter. Ziemlich herablassend."
"Herablassend?" frage ich schon wieder empört.
"Ja, herablassend. Vielleicht wollen diese Menschen gar nicht Dein Mitleid oder eine Sonderbehandlung. Vielleicht wollen sie, dass Du sie behandelst wie jeden anderen auch. Was gibt Ihnen das Recht, so herum zudrängeln? Wo steht, dass Rollstuhfahrer als erstes ins Zelt müssen oder dürfen oder sollen? Wo steht, dass Rollstuhlfahrer die Gesetze der Höflichkeit missachten dürfen!"
Nirgends. Natürlich steht es nirgends.
Aber warum dann das Gefühl in mir, man dürfe den beiden Menschen nicht böse sein, obwohl man es definitiv ist?
"Die haben sich schlecht benommen und nicht Du, weil Du stinksauer warst!" erklärt mir der Freund.
"Und das ist es, was ich mit kleine Macht meine. Ihr sorgt Euch darum, ob Ihr uns mit dem Wort Behinderter verletzt, sorgt Euch darum, ob man öffentlich sauer sein darf, wenn sich einer von uns schlecht benehmt. Wir können machen was wir wollen, wir haben immer diesen Sonderstatus. Und Ihr merkt nichtmal, wie lächerlich das ist.
Ich bin behindert, denn ich werde durch die Behinderung am Gehen gehindert. Egal wie Ihr das nennt. Und ich bin ein Mensch und habe mich an zwischenmenschliche Höflichkeitsregeln zu halten. Und wenn der Typ das nächste Mal ankommt und durch will, dann sagst Du ihm: Dahinten ist das Ende der Schlange!"
wer mit behinderten nur selten zu tun hat, der weiss einfach nicht so recht mit ihnen umzugehen. obwohl wir in der verwandtschaft verschiedene menschen mit körperlichen behinderungen haben (und mit ihnen gehe ich so um wie mit fussgängern auch... was anstand, rücksicht etc. angeht.) fällt es mir bei "fremden" manchmal schwer. liebe grüsse, andrea
vom 05.07.2007, 16.30